22. März 2021

Medienhuren mit Würde – Widerspruch gegen den Beitrag „Prostitution – kein Job wie jeder andere“

Zur besten Sendezeit, am 4.3. 2021 wurde der Beitrag „Prostitution – kein Job wie jeder andere“ bei 3Sat im Rahmen der Sendung „Scobel“ ausgestrahlt, in dem auch ich und meine Kollegin Johanna Weber auftreten.

Einen Tag nach dem internationalen Tag gegen Gewalt an Sexarbeitenden und vier Tage vor dem Internationalen Frauenkampftag erschien in einem öffentlich rechtlichen Sender eine „Wissenschaftsdokumentation“ von 45 min, der die Rechte und das Selbstverständnis von Sexarbeitenden, die sich bewusst für ihren Job entschieden haben, mit Füßen tritt.

Auf Johanna Weber und mich entfielen insgesamt 1,5 min von 45 min Sendezeit. Unser Auftritt diente eigentlich nur einem Zweck: als die selbstbezogene, wirklichkeitsfremde “Minderheit” selbstbestimmter Sexarbeiter:innen aufzutreten, die sich auf Kosten der “Hunderttausenden” ausgebeuteter Sexsklavinnen ihr hedonistisches, empathieloses Dasein finanzieren. Dies ist beleidigend und faktisch falsch. Im gesamten Beitrag werden Sexarbeitende als hilflose Opfer dargestellt sowie das sog. Nordische Modell gepriesen, das nachweislich Sexarbeitende stigmatisert und existentiell gefährdet.

Die Autorin Nathalie Suthor hatte mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Auftreten im Beitrag gewonnen, um mich dann in verkürzter und beleidigender Form darzustellen. Auch andere Mitwirkende des Beitrages, wie zwei Sozialarbeiterinnen der Caritas, die Soziologin Elfriede Steffan und Johanna Weber haben sich im Nachgang beim Sender für den wissenschaftlich unhaltbaren, manipulativen Beitrag beschwert. Wir fühlen uns von der Autorin vorsätzlich getäuscht und widersprechen der inhaltlichen Ausrichtung des Filmes.

Tweet Marlen

Mit dem  Tweet, der mittlerweile über 1000x geteilt wurde, habe ich auf diese Situation aufmerksam gemacht. Er hat- wie auch der Beitrag von Johanna Weber  u. Elfriede Steffan und der Caritas Essen zu massenhaften Beschwerden bei 3Sat und dem ZDF geführt. Auch der bufas, das Bündnis der Fachberatungsstellen von Sexarbeitende, hat einen Offenen Brief an den Sender verfasst.
Mittlerweile gibt es eine offizielle Programmbeschwerde des BesD, die bereits vom Vorsitz des ZDF Medienrates beantwortet wurde.
Er wird nun als Leitbeschwerde geführt, da inzwischen so viele Beschwerden zum Beitrag eingegangen sind.
Wir erhoffen uns eine Gegendarstellung des Senders oder einen Beitrag/eine Doku gleicher Länge, die sich ausführlich mit den positiven Auswirkungen legaler Sexarbeit befasst sowie mit der Frage, was es braucht, um Sexarbeitenden in Notlagen oder Personen, die nicht in der Branche arbeiten wollen,  wirklich zu helfen anstatt sie zu verbieten.

Ich möchte mich für die zahlreichen Zuschriften an mich persönlich und auch die Beschwerden bedanken, die Ihr an den Sender gesendet habt.
So viel Solidarität für Sexarbeitende ist heilsam!  <3
Nur so verändern wir die mediale Darstellung von Sexarbeit – für eine respektvolle, einfühlsame Repräsentation statt polarisierende, skandalisierende Bilder, die Grusel, Mitleid und Sensationslust auslösen. Sex und Gewalt ist eine Mischung, die sich immer gut verkauft – das wissen vor allem die Medien. Dies passiert aber auf den Rücken von Sexarbeitenden, die gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung statt Mitleid fordern!

Lest hier meine ausführliche Beschwerde an 3Sat und den ZDF Fernsehrat:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sehr geehrter Hr. Himmler,

hiermit möchte ich mich über den Beitrag „Prostitution- kein Job wie jeder andere“ von Nathalie Suthor beschweren, der am Donnerstag, den 4.3.2021 als „Wissenschaftsdokumentation“ in Verbindung mit der Sendung „Scobel“ veröffentlicht worden ist und bis 4.3.2026 online zugänglich bleiben soll.

Ich möchte mich in zweierlei Hinsicht beschweren, erstens betreffend des Umgangs der Autorin Nathalie Suthor mit ihren Protagonist:innen, zu denen auch ich gehöre, und zweitens wegen der einseitigen, unwissenschaftlichen und manipulativen Ausrichtung, die der Beitrag hat.

Nathalie Suthor kontaktierte mich am 19.11.2020 per E-Mail als potentielle Protagonistin für einen TV-Beitrag zum Thema Prostitution für 3sat. Ich setze mich privat und beruflich seit vielen Jahren für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen*, eine geschlechtergerechte Sexarbeit und die Destigmatisierung von Sexarbeitenden ein. Da ich nach acht Jahren als politisch engagierte Sexarbeiterin auch schon einige schlechte Erfahrungen mit Medien sammeln musste, habe ich im Rahmen des telefonischen Vorgesprächs explizit erfragt, was Frau Suthor mit ihrem Beitrag beabsichtigt, welche Botschaften dieser senden soll und wie dieser gestaltet sein wird.

Sie beschrieb den geplanten Beitrag mir gegenüber glaubhaft als „ausgewogen“. Es sollten darin sowohl die Befürworter:innen eines Verbotes von Sexarbeit, als auch Befürworter:innen einer legalen und entkriminalisierten Sexarbeit porträtiert und deren Haltungen sichtbar gemacht werden. Mich selbst hat sie auch aufgrund meiner feministischen Haltung in und zu meiner Arbeit angefragt.

Ich habe in dem Gespräch klar zum Ausdruck gebracht, dass ich im Falle einer tendenziösen Berichterstattung zu Sexarbeit nicht für Dreharbeiten bereitstehe.

Ich lud Frau Suthor und ihr Filmteam am 08.12.2020 zu Dreharbeiten in mein Studio ein. Bei dem circa 3-stündigen Gespräch mit ihr zeigte sie sich hoch interessiert an meinem Selbstbild als feministische Sexarbeiterin. Ich sprach über meine weibliche Kundschaft, meine langjährige berufliche und private Beschäftigung mit sexueller Aufklärungsarbeit, mein Engagement für die Rechte von Sexarbeitenden und über meinen Blick auf Sexarbeit im Allgemeinen. Ich sprach mit ihr darüber, warum sich alle selbstorganisierten Bündnisse von Sexarbeitenden weltweit gegen das Nordische Modell aussprechen und wie dieses Sexarbeitende stigmatisiert, gefährdet und ausgrenzt. Ich gab ihr eine Liste von NGOs, die ein Sexkaufverbot ablehnen, zu diesen zählen unter anderem Amnesty International, die Deutsche Aidshilfe, Human Rights Watch, die WHO, der K.O.K (Koordinierungskreis der Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel), der Deutsche Juristinnenbund, die Deutsche Gesellschaft für STI und viele mehr.

Im Nachgang des Drehs gab es einen E-Mail-Austausch, in dem Frau Suthor mir schrieb:

„Hallo Marlen, so, jetzt habe ich alles gesichtet und kann Dich beruhigen: Ich habe ganz viele tolle starke Sätze von Dir! Deine Position kommt sehr überzeugend rüber und wird bestimmt zum Nachdenken anregen. (…)“

Sie können sich also meine Überraschung vorstellen, als der Beitrag ausgestrahlt wurde. Als ich am 4.3. zur besten Sendezeit vor dem Fernseher saß, war ich entsetzt und bin seither extrem wütend.

Die Doku fokussiert auf dramatische (und bedauernswerte) Fälle von Missbrauch, Armut und Elend in den Erzählungen ehemaliger Prostituierter, sowie auf lange Beiträge von teils als radikale Sexarbeitsgegner:innen bekannten Befürworter:innen des Nordischen Modells. Die Bildsprache und das Voice-Over wurden im harmonischen Einklang mit den Aussagen letzterer erstellt ; die Sendung wirkt wie ein Propagandafilm der Antiprostitutionslobby.

Johanna Weber und ich treten lediglich als Randfiguren in einem engen inhaltlichen Framing auf: Wir würden unsere „Freiheit“ ausleben, selbstbezogen und auf Kosten des Leides der „Hunderttausenden“ – das ist faktisch falsch. Eine solche Darstellung kann uns persönlich und beruflich schaden.

Natürlich ist mir bewusst, dass es Ausbeutung und auch Kriminalität in der Branche gibt, und diese sollte ebenso gezeigt sowie vor allem auch bekämpft werden. Allerdings gibt es zu der Frage, wie diese Bekämpfung aussehen soll, sehr unterschiedliche Auffassungen und diese sollten laut Frau Suthor im Beitrag dargestellt werden. Diese Objektivität und Meinungsvielfalt hatte Frau Suthor mir persönlich zugesagt. Meine Sendezeit betrug, zusammengezählt mit der Sendezeit der einzigen anderen aktiv tätigen Sexarbeiterin, circa 1,5 Minuten.

Zur Minute 20:20 verkündet die Sprecherin, dass in Deutschland eins der liberalsten Prostitutionsgesetze der Welt herrsche, sowie eine „engagierte Lobby, die Prostitution als Ausdruck einer sexuellen Selbstbestimmung betrachtet.“ Zu diesem Zeitpunkt wird im Video meine Kollegin Johanna Weber gezeigt, eine Frau die sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich für die Rechte von Sexarbeitenden einsetzt. Ihre Rolle als grellstimmige, wirklichkeitsfremde, leicht aggressive und uneinsichtige Ausnahme-Prostituierte wurde bereits in Minute 01:05 – 01:33 festgelegt.

Zu Minute 23:26 komme ich in meinem Studio ins Bild, während die Sprecherin ankündigt, dass auch ich, offensichtlich in einem Topf mit der bereits diskreditierten Johanna Weber, „in Berlin freiwillig Sex gegen Geld anbiete“. Die ab Minute 23:32 gezeigten Gesprächsmitschnitte empfinde ich als Farce und beleidigende Verkürzung meiner Aussagen aus einem langen Gespräch, dessen Fokus gemäß meiner Arbeit und meines Selbstverständnisses ein völlig anderer war.

Erster Satz: „Ich war bei meiner ersten sexuellen Dienstleistung sozusagen überrascht, dass ich weder gedemütigt war, noch mich nicht respektiert fühle, noch Gewalt erfahren habe… (bevor ich den Satz aus Sicht von Frau Suthor wohl etwas heikel zu Ende bringe, schwenkt nun die Kamera weg von meinem Gesicht, hin auf den interessanten Inhalt meines Schranks) … sondern, dass eigentlich was Positives passiert ist.“

Zweiter Satz: „Die nicht jugendfreie Variante davon ist: Ich war jung und brauchte das Geld.“

Dritter Satz: „Ich war selbstständig als Physiotherapeutin, und da verdient man nicht besonders viel und ich war immer überrascht davon, wie viel mehr ich verdienen kann, wenn ich den sogenannten „Handjob“ machen kann (lacht). Ich hab mich lange Zeit dagegen verwehrt und fand das wie gesagt unethisch, und hab dann aber irgendwann gedacht, warum eigentlich nicht.“

Diese Worte habe ich mit Humor als Nebensatz in einem sehr gehaltvollen Gespräch fallengelassen. Der Humor ist aus dem Kontext gerissen nicht mehr einzuordnen, zudem erzähle ich darin von früheren Ansichten, ohne dass diese in meine rund 10-jährige Arbeitserfahrung eingeordnet werden. Diese Ausschnitte wurden entweder gewählt, um den einseitigen Tenor des Beitrags nicht zu „stören“ oder um mich persönlich als etwas unbedarft beziehungsweise geldgeil dastehen zu lassen – beide Varianten stehen einer sogenannten „Wissenschaftsdoku“ nicht gut zu Gesicht.

Die irreführende Präsentation meiner Arbeit und meiner Person endet mit den Worten der Sprecherin: „Frauen wie Kristina Marlen und Johanna Weber prägen seit 20 Jahren die öffentliche Vorstellung von Prostitution. Doch die Bedingungen unter denen Kristina und Johanna arbeiten, sind die Ausnahme.“

Zu Minute 42:30 gehörte – nach einer Fülle an sexarbeitsfeindlichen Aussagen, Lobpreisungen des Modells in Schweden und Erklärungen über Dissoziation und Gewalt, noch einmal meiner Kollegin Johanna Weber das Wort. Wieder wurde durch geschickten Schnitt sowie durch die Einbindung der Episode zwischen sexarbeitsfeindlichen Aussagen, Wert darauf gelegt, dass Frau Webers Äußerungen in Tonfall und Auswahl dem unglaubwürdigen und egoistischem Bild das bisher von ihr gezeichnet wurde, wieder vollumfänglich gerecht wird. Danach folgt ein weiterer Zusammenschnitt sexarbeitsfeindlicher Aussagen, wobei sich die Beiträge der Sprecherin, wie es durchgehend in dem Film der Fall ist, inhaltlich mit den Aussagen der zu Wort kommenden Sexarbeitsgegner*innen deckt.

Mein Anliegen bei jedem Medienbeitrag zu Sexarbeit ist es, dass ein realistisches Bild von der Branche in ihrer Vielfalt gezeigt wird, respektvolle Bilder der Menschen, die sich dafür entscheiden, darin zu arbeiten und eine sensible Repräsentation unseres Selbstverständnisses.

Als Sexarbeitende müssen wir in den Medien häufig für Klischees herhalten, die reproduziert werden und die ein zugespitztes, skandalisierendes oder auch mystifizierendes Bild von Prostitution erzeugen sollen. Unsere eigene Sicht auf unsere Arbeit, unseren Körper und unser Leben wird häufig verschwiegen. Zugunsten eines Stereotyps, das sich gut verkauft, weil es Sensationslust, Empörung oder Grusel auslösen soll – insofern werden wir tatsächlich benutzt, nämlich in dem Fall durch eine respektlose Repräsentation.

Daher war es mir besonders wichtig zu wissen, welche „Message“ im Beitrag transportiert werden soll – ich habe dies ganz klar zu Beginn der Zusammenarbeit erfragt.

Ich wurde offensichtlich unter Vortäuschung falscher Tatsachen als Protagonistin für diesen Beitrag angeworben und widerspreche daher der Verwendung meiner Aufnahmen. Diese bewegen sich, wie oben dargelegt, durch die starke Verkürzung und den fehlenden Kontext im Beitrag, nahe am Falschzitat.

Ich halte das Vorgehen von Frau Suthor hier für unethisch und unprofessionell. Journalistisch ist es unverantwortlich, denn der komplett einseitige Beitrag wurde von ihr gefertigt, trotzdem sie sowohl Zugang als auch Material hatte, das eine komplexere Darstellung erlaubt hätten. Einige der Protagonist:innen, inklusive mir, hat sie derart verkürzt und in den prostitutionsfeindlichen Flow des Beitrages eingepflegt, dass man von aktiver Täuschung von Protagonist:innen reden kann. Ihr Beitrag ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht von Johanna Weber und mir, sondern schadet der gesamten Sexarbeitsbewegung. Solche einseitigen, skandalisierenden Darstellungen stigmatisieren Sexarbeitende, statt unsere Anerkennung und Wertigkeit als Bürger:innen und Menschen in dieser Gesellschaft zu stärken.

Ich bin des Übrigen nicht die einzige Protagonistin, die sich falsch repräsentiert und getäuscht fühlt und von dem Beitrag distanziert.

Ich selbst habe mich auf Twitter distanziert und das Vorgehen von Frau Suthor kritisiert – der dazugehörige Tweet wurde bisher rund 1000 Mal geteilt und über dreieinhalbtausend mal positiv bewertet. Zudem wurden viele Rufe nach einer Stellungnahme beziehungsweise einer Gegendarstellung von 3sat laut:

Auch der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen, der größte ausschließlich von aktiven und ehemaligen Sexarbeitenden organisierte Verbund in Europa, hat eine Programmbeschwerde formuliert:

Auch der BuFaS, ein deutschlandweites Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter hat eine Stellungnahme abgegeben:

Einige Wissenschaftler:innen, die bereits seit Jahren im Bereich Sexarbeit forschen und publizieren, haben Ihnen bereits geschrieben. Behauptungen, wie die Bezeichnung von Frau Weber und mir als „eine der wenigen Ausnahmen“, sind eben so wenig wissenschaftlich belegt, wie die im Beitrag verbreiteten Zahlen von sogenannten Zwangsprostituierten. In diesen auch mir vorliegenden

Zuschriften finden Sie zusätzliche Belege dafür, warum dieser Beitrag wissenschaftlich nicht haltbar ist.

Ich fordere aus allen genannten Gründen, dass dem Beitrag „Prostitution – Kein Job wie jeder andere“ das Label „Wissenschaftsdokumentation“ entzogen wird.

Zudem halte ich eine Gegendarstellung des Senders, beziehungsweise eine vergleichbar umfangreiche Dokumentation, die sich mit den Argumenten für legale Sexarbeit und gegen ein Sexkaufverbot auseinandersetzt, für mehr als angemessen – ein solche könnte unter der Mitwirkung von Sexarbeitenden, Beratungsstellen, Wissenschaftler:innen und einer Auswahl der oben genannten unabhängigen Institutionen wie zum Beispiel die Deutsche Aidshilfe oder die Deutsche Gesellschaft für STI stattfinden.

Ein gutes Beispiel, wie eine solche Gegendarstellung aussehen könnte, gab es schon einmal bei der ARD zu sehen. Es möge Ihnen eine Inspiration sein:

https://www.youtube.com/watch?v=Wa9WVPv1fqs

Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre Rückmeldung.

Mit höflichen Grüßen
Kristina Marlen

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